Zwei alte Herren trafen sich auf einer Parkbank, umrundet von
Bäumen. Es war ein regnerischer Tag und beide umschlungen ihren Regenschirm mit
kräftiger Hand. Der Eine begann:
„Das Leben hat mich gelehrt, wachsam
zu sein. Es ist ein Narr, wer nichts Böses ahnt und allem Glauben schenkt.“
Der Zweite erwiderte:
„Vor 25 Jahren klopfte eine junge
Frau bei mir an der Tür. Sie war durchnässt und alles in allem in einem
desaströsen Zustand. Sie sprach in wirren Sätzen und ob ich nun doch wollte, so
wurde ich nicht recht schlau aus ihr. Ich ließ sie erst einmal in die Küche und
holte ihr ein Handtuch. Als sie sich zumindest so gut es ging abgetrocknet
hatte, war auch in ihre Gemütsverfassung ein wenig Ruhe eingetreten. Ich mag
nicht sagen, dass ich mir nun vorkam, als würde ich die Sätze einer Gelehrten
über ein wahrlich kompliziertes Thema hören, so doch schien das ein oder andere
in gewisser Weise Sinn zu machen. Ich beruhigte sie und bot ihr einen Melissentee
an. Sie nahm dankend an und so machte ich mich an die Arbeit. Nun hatte ich
einen Augenblick Zeit, sie in Ruhe zu betrachten. Sie war Anfang zwanzig
vielleicht – vielleicht auch ein paar Jahre älter -, doch ich bin mir sicher,
dass sie die 30 noch nicht erreicht hatte. Ihr schulterlanges Haar fiel ihr
noch ein wenig nass an ihrem zierlichen Körper hinab, welches in trockenem
Zustand einen goldig-blonden Ton gehabt haben müsste, und ihre nussbraunen
Augen strahlten eine ferne Furcht aus, die mir zu diesem Zeitpunkt noch
gänzlich verschlossen schien. Sie war – wie ich schon sagte – von schlanker
Natur und nicht groß; vielleicht 1,60 m – wenn überhaupt. Sie schien bereits
etwas durchgemacht zu haben in ihrem jungen Leben und obschon sie eine weiche
Haut hatte, so war sie doch vom Leben gezeichnet. Ich reichte ihr den Tee und
warf einen kurzen Blick auf ihre rechte Hand: Tiefe blaue Flecken bahnten sich
einen Weg entlang ihrer Handgelenke. Sie redete nun erstaunlich ruhig, geradezu
gefasst, als ob sie eine völlig andere Person gewesen wäre, als die, die mir
eben noch auf meiner Türschwelle gegenübergestanden hatte. Ihre Finger waren
verdreckt, die Nägel dunkel umrandet. Sie warf mir einen kurzen flehenden Blick
zu, um sogleich ihre Geschichte fortzuführen. An der Stelle, an der ihr Rock
die Beine freigab, zeichneten sich unzählige Schrammen ab, die von Blut
ausgeschmückt wurden, welches sich in dünnen Bahnen ihre nun trockenen Beine
hinab abzeichnete. Sie trank einen weiteren Schluck Tee. Ich schaute auf die
Uhr. Sie wurde nun etwas hektischer; gestikulierte erneut wild, so, wie sie es
schon an der Türschwelle gemacht hatte. Es waren gute zwanzig Minuten
vergangen, seit sie an meinem Küchentisch Platz genommen hatte. Die Kuckucksuhr
läutete zur vollen Stunde. Ein goldener Ring umschloss ihren linken
Mittelfinger. Der Kuckuck verschwand und sie legte ihre Hände beschwichtigend
auf der Tischplatte ab. Tränen flossen ihre Wangen herab und ein sicherlich
wertvoller Stein glänzte auf der Oberseite des Ringes. Ich reichte ihr ein
Taschentuch. Sie wischte sich die verschmierten Augen trocken und begann leise
zu schluchzen. Ich wartete geduldig und zeigte mich verständnisvoll. Sie atmete
tief durch. Ein fernes Glänzen durchfloss ihre Augen für einen
Sekundenbruchteil, dann Stille, minutenlang, nur das beständige Ticken der Kuckucksuhr
war zu vernehmen. Plötzlich klingelte das Telefon. Meine Frau war dran. Ihr
täte es leid, dass sie sich nicht schon früher gemeldet hätte – hatte ich die
Zeit völlig vergessen – ihr wäre etwas dazwischen gekommen, sie würde aber
bald zu Hause sein. Die junge Frau hörte aufmerksam zu. Ich gestand ihr zu,
dass sie gerne noch bleiben könne, meine Frau könne sich ihre Wunden genauer
anschauen. Ich fragte sie, ob sie noch einen Tee wolle und sie nickte nur.
Wenig später schloss meine Frau die Tür auf, die Kuckucksuhr erklang zur halben
Stunde und sowie sie das Haus betrat, rannte die Fremde hinaus. Ich sollte sie
erst viele Jahre später wiedersehen...