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Dienstag, 24. September 2013

Die alten Herren - Teil I

Zwei alte Herren trafen sich auf einer Parkbank, umrundet von Bäumen. Es war ein regnerischer Tag und beide umschlungen ihren Regenschirm mit kräftiger Hand. Der Eine begann:

„Das Leben hat mich gelehrt, wachsam zu sein. Es ist ein Narr, wer nichts Böses ahnt und allem Glauben schenkt.“

Der Zweite erwiderte:

„Vor 25 Jahren klopfte eine junge Frau bei mir an der Tür. Sie war durchnässt und alles in allem in einem desaströsen Zustand. Sie sprach in wirren Sätzen und ob ich nun doch wollte, so wurde ich nicht recht schlau aus ihr. Ich ließ sie erst einmal in die Küche und holte ihr ein Handtuch. Als sie sich zumindest so gut es ging abgetrocknet hatte, war auch in ihre Gemütsverfassung ein wenig Ruhe eingetreten. Ich mag nicht sagen, dass ich mir nun vorkam, als würde ich die Sätze einer Gelehrten über ein wahrlich kompliziertes Thema hören, so doch schien das ein oder andere in gewisser Weise Sinn zu machen. Ich beruhigte sie und bot ihr einen Melissentee an. Sie nahm dankend an und so machte ich mich an die Arbeit. Nun hatte ich einen Augenblick Zeit, sie in Ruhe zu betrachten. Sie war Anfang zwanzig vielleicht – vielleicht auch ein paar Jahre älter -, doch ich bin mir sicher, dass sie die 30 noch nicht erreicht hatte. Ihr schulterlanges Haar fiel ihr noch ein wenig nass an ihrem zierlichen Körper hinab, welches in trockenem Zustand einen goldig-blonden Ton gehabt haben müsste, und ihre nussbraunen Augen strahlten eine ferne Furcht aus, die mir zu diesem Zeitpunkt noch gänzlich verschlossen schien. Sie war – wie ich schon sagte – von schlanker Natur und nicht groß; vielleicht 1,60 m – wenn überhaupt. Sie schien bereits etwas durchgemacht zu haben in ihrem jungen Leben und obschon sie eine weiche Haut hatte, so war sie doch vom Leben gezeichnet. Ich reichte ihr den Tee und warf einen kurzen Blick auf ihre rechte Hand: Tiefe blaue Flecken bahnten sich einen Weg entlang ihrer Handgelenke. Sie redete nun erstaunlich ruhig, geradezu gefasst, als ob sie eine völlig andere Person gewesen wäre, als die, die mir eben noch auf meiner Türschwelle gegenübergestanden hatte. Ihre Finger waren verdreckt, die Nägel dunkel umrandet. Sie warf mir einen kurzen flehenden Blick zu, um sogleich ihre Geschichte fortzuführen. An der Stelle, an der ihr Rock die Beine freigab, zeichneten sich unzählige Schrammen ab, die von Blut ausgeschmückt wurden, welches sich in dünnen Bahnen ihre nun trockenen Beine hinab abzeichnete. Sie trank einen weiteren Schluck Tee. Ich schaute auf die Uhr. Sie wurde nun etwas hektischer; gestikulierte erneut wild, so, wie sie es schon an der Türschwelle gemacht hatte. Es waren gute zwanzig Minuten vergangen, seit sie an meinem Küchentisch Platz genommen hatte. Die Kuckucksuhr läutete zur vollen Stunde. Ein goldener Ring umschloss ihren linken Mittelfinger. Der Kuckuck verschwand und sie legte ihre Hände beschwichtigend auf der Tischplatte ab. Tränen flossen ihre Wangen herab und ein sicherlich wertvoller Stein glänzte auf der Oberseite des Ringes. Ich reichte ihr ein Taschentuch. Sie wischte sich die verschmierten Augen trocken und begann leise zu schluchzen. Ich wartete geduldig und zeigte mich verständnisvoll. Sie atmete tief durch. Ein fernes Glänzen durchfloss ihre Augen für einen Sekundenbruchteil, dann Stille, minutenlang, nur das beständige Ticken der Kuckucksuhr war zu vernehmen. Plötzlich klingelte das Telefon. Meine Frau war dran. Ihr täte es leid, dass sie sich nicht schon früher gemeldet hätte – hatte ich die Zeit völlig vergessen – ihr wäre etwas dazwischen gekommen, sie würde aber bald zu Hause sein. Die junge Frau hörte aufmerksam zu. Ich gestand ihr zu, dass sie gerne noch bleiben könne, meine Frau könne sich ihre Wunden genauer anschauen. Ich fragte sie, ob sie noch einen Tee wolle und sie nickte nur. Wenig später schloss meine Frau die Tür auf, die Kuckucksuhr erklang zur halben Stunde und sowie sie das Haus betrat, rannte die Fremde hinaus. Ich sollte sie erst viele Jahre später wiedersehen...


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